Freitag, 18. April 2014

F R E I T A G.



Heute ist Karfreitag, ein Tag, der Raum zum denken oder nachdenken bietet. Für Christen, aber auch für Nichtchristen. Feiertage sind ruhige Tage und die Hektik des Alltag verschwindet mit dem Ladenschluss. Der heutige Selber denken Beitrag, ist länger als seine Vorgänger und braucht ein Platz im Kopf. Erfüllt ihn.

Was denkst du Indre?



Selberdenken. Was heißt das eigentlich? Die Evangelische Kirche spricht von „7 Wochen ohne falsche Gewissheiten“.  Doch was sind Gewissheiten? Woher weiß ich, wann sie falsch und wann sie richtig sind? Und wie denkt man ohne Gewissheiten – ganz gleich, ob sie nun falsch oder richtig sind? Das diesjährige Fastenmotto der Evangelischen Kirche lässt mich ein wenig ratlos zurück.


Versuch einer Antwort. Oder: Eine Anleitung zum Selberdenken
von Indre Zetzsche


Auf der Suche nach Antworten, landete ich schließlich dort, wo ich das Denken einst erlernte: an der Universität. In meinem Studium bin ich den Gewissheiten gleich von zwei Seiten zu Leibe gerückt: analytisch und empirisch. Man kann sich darüber streiten, ob die Fächerkombination aus Kulturwissenschaft und Europäischer Ethnologie gescheit ist (unter dem Aspekt der beruflichen Verwertbarkeit sicher nicht). Mir hat sie nicht geschadet. Im Gegenteil. Ich profitiere bis heute von der Kunst des geordneten Denkens, die ich dort erlernte. Fürs Selberdenken war – wie ich rückblickend feststelle – vor allem das Studium der Europäische Ethnologie von unschätzbarem Wert.





Wer Europäische Ethnologie studiert, steht vor einer besonderen Herausforderung: Er muss die eigene Kultur erforschen. Für nichts ist man blinder. Sie ist das Fundament unserer Gewissheiten. Zweifelsfrei und unhinterfragt. ‚So ist das eben!’ ‚So macht man das halt!’ Eines der ersten Dinge, die wir angehenden Ethnologen daher lernten, war die Techniken der Verfremdung und der ‚dichten Beschreibung’.

Sie sind ein guter Weg zum Selberdenken. Darum versuche ich sie für Marleens Blogaktion – im Sinne einer Anleitung zum Selberdenken – zu rekonstruieren.

Schritt 1: Dem Zweifel Raum geben
Zunächst mussten wir Studierenden dem Zweifel einen Platz in unserem Denken einräumen. Er zog in Gestalt einer Frage ein und war anfänglich sehr schüchtern. Wir mussten ihn stets ermuntern, sich herauszuwagen. Doch schon bald wurde er mutiger und breitete sich in unserem ganzen Denken aus: ‚Ist es tatsächlich so, wie es auf den ersten Blick scheint?’ Der Zweifel half uns, Abstand zu unseren Gewissheiten zu gewinnen und eröffnete zugleich einen Möglichkeitsraum: Es könnte auch ganz anders sein.  

Schritt 2: Die Rezeptur der Gewissheit finden
Im zweiten Schritt untersuchten wir die Beschaffenheit unserer Gewissheiten. Mit Unterstützung einschlägiger Fachliteratur (bei Interesse erstelle ich gerne eine kleine Literaturliste) kamen wir ihrer Grundsubstanz schnell auf die Spur: Regeln, Werte und Normen. Sie formen unsere Wahrnehmung, und leiten uns in unserem Tun und Denken ohne – und das ist der entscheidende Punkt – dass wir uns ihrer bewusst sind. Wir sind uns ihrer gewiss.

Schritt 3: Die Wahrnehmung wahrnehmen
Lektion 3 lautete: Die eigene Wahrnehmung wahrnehmen. Das Vertrackte mit dem Wahrnehmen ist, dass sich unsere Gewissheiten immer zwischen uns und die Welt schieben, und sie entsprechend ordnen und einfärben. Ein Beispiel:
In der Münchener U-Bahn saß eine dunkelhäutige Frau neben einem hellhäutigen Kind, dem die Nase lief. Neben den beiden saß eine ältere Dame, die die beiden aufmerksam beäugte. Nach einer Weile griff sie in ihre Handtasche, holte eine Packung Taschentücher heraus und reichte sie der Frau mit den Worten: ‚Richten Sie den Eltern des Kindes aus, dass es Ihnen künftig ausreichend Taschentücher mitgeben.’
Die Reaktion der älteren Dame verrät viel über ihre Welt und wenig über die Wirklichkeit. Sie ging offensichtlich davon aus, dass die dunkelhäutige Frau die Kinderfrau des Mädchens war. Tatsächlich war es seine Mutter. Als Ethnologe darf einem ein derartiger interpretatorischer Kurzschuss natürlich nicht passieren, und so wurden wir für den feinen Unterschied zwischen Beobachten und Interpretieren sensibilisiert.

Hätte die ältere Dame in der Münchener U-Bahn beobachtet, hätte sie Folgendes wahrgenommen:
Neben einer dunkelhäutigen Frau sitzt ein hellhäutiges Mädchen, dem die Nase läuft. Die beiden scheinen vertraut miteinander zu sein; keine von beiden reagiert auf die laufende Nase des Kindes.
In welcher Beziehung die Zwei zueinander stehen, ob sie keine Taschentücher haben oder ob sie die laufende Nase schlichtweg nicht wahrnehmen, darauf gibt die Situation allein keinerlei Hinweise.

Schritt 4: Vom reinen Wahrnehmen zum dichten Beschreiben
Das Beobachtete allein ist etwas mager. Spannend wird es ja erst, wenn wir die Wirklichkeit hinter der bloßen Erscheinung aufspüren. – Warum ging die ältere Dame davon aus, dass die dunkelhäutige Frau nicht die Mutter des Mädchens war? Um die Hinter- und Beweggründe der Menschen zu verstehen, wurde uns angehenden Ethnologen die ‚dichte Beschreibung’ ans Herz gelegt. Hierbei taten wir im Grunde das, was wir mit Schritt 3 abgelegt hatten: Wir interpretierten das Beobachtete vor dem Hintergrund kultureller Gewissheiten – mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass wir uns ihrer  bewusst sein mussten.

Um das Verhalten der älteren Dame zu verstehen, würde ich als Ethnologin also zunächst herausfinden, aus welchem Milieu sie stammt und dann die dort geltenden Regeln, Werte und Normen analysieren. Auf Basis dessen könnte ich ihr Verhalten in der U-Bahn schließlich ‚dicht’ beschreiben.

Diese Beschreibung könnte von einer Frau handeln, die aus einem wohlhabenden, katholischen Elternhaus stammte und in eine ebenso vermögende und wertekonservative Familie eingeheiratet hatte. In dieser Welt des ‚erlesenen Geschmacks’ und ‚feinen  Sitten’ war es Gang und Gebe, eine Kinderfrau zu haben oder wenigstens ein Au-Pair ‚aus Übersee’. Man war nicht ‚rassistisch’, doch blieb man unter seinesgleichen. Eine Verbindung mit Menschen anderer Kulturen ging man in diesen Kreisen niemals ein. Dass Kinder eine andere Hautfarbe als ihre Eltern haben, kam also nicht vor bzw. konnte/durfte nicht vorkommen. ...



Selberdenken. Denken ohne Gewissheiten. Das ist für mich als Ethnologin ein Denken auf Distanz und ein Denken in Möglichkeiten. Bequem ist das nicht, aber umso bereichernder. Denn es könnte eben immer alles auch ganz anders sein. Im Zweifel vielleicht sogar besser.




5 Kommentare:

  1. Danke für diesen Beitrag ! Im Zweifel vielleicht sogar besser - den Gedanken find ich besonders schön !
    Schöne Osterfeiertage wünsche ich dir
    Liebe Grüße , Ursula

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  2. und wie gut es täte, wenn mehr menschen – wenn ihrer ausbildung nach auch ethnologische laien – sich zu solchem denken be.un.bequemen würden, wachen verstands durch die welt zu gehen, gewissheitenfasten zu betreiben.

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  3. Danke für das schöne Feedback euch; und dir, Marleen, für die Einladung und deine Geduld. LG I.

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  4. zweifelnähren und gewissheitenfasten... - das kann mich gern über sieben wochen hinaus begleiten, damit ich unbequem bleiben und dennoch einfach sein kann... lieben gruß euch denkerinnen ;-) ghislana

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  5. Selten ist es so, wie es auf den ersten Blick scheint. Sich das selbst in seinem eigenen Denken ab und zu wieder ins Bewusstsein zu rufen und seine Gewissheiten zu hinterfragen ist sicherlich nicht nur zur Fastenzeit gut.

    Herzlich, Katja

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